Lebenskunst

Sinn und Unsinn

Wie ist das Dasein zu verstehen? Wie sollen wir es leben? Hier finden sich die Herangehensweisen von Camus und Lao-Tse!

Lange Zeit hat mich das Konzept von Camus‘ Der Mythos des Sisyphos fasziniert. Kern dieses philosophischen Essays ist die mythologische Figur Sisyphos, die dazu verdammt ist, einen Stein den Berg hochzurollen. Immer wieder. Auf ewig. Kaum eine andere Tätigkeit erscheint sinnloser. Nicht mal Handyverträgeverkaufen. Damit zeigt Camus die Absurdität des Daseins auf. Der sinnstrebende Mensch in einer sinnleeren Welt. Knaller. Also Unsinn des Lebens. Das klingt nach einem Ansatz. Gleichzeitig heißt es, „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Wie passt denn bitte hier der Begriff Glück ins Bild? Einen Stein den Berg hochrollen klingt nicht sonderlich beglückend. Camus argumentiert, dass Sisyphos‘ Stein sein Schicksal ist und der Stein voll und ganz ihm allein gehört. Er hat somit voll und ganz sein Schicksal wortwörtlich in der Hand. Sein Schicksal gehört ihm. Wir können also einfach diese Absurdität des Dasein annehmen, wie Sisyphos seinen Stein. Das hat durchaus etwas Erleichterndes. Ab heute nicht mehr am Dasein verzweifeln, gibt ja keinen Grund zu verzweifeln, wenn man keine Sinnhaftigkeit voraussetzt! Das gibt der Sache eine gewisse Leichtigkeit. Und wer Sinn braucht, der soll sich nebenbei selber was zusammenbrauen?

Camus‘ Sisyphos-Argument bewährt sich eigentlich nicht mehr in meinem Leben. Denn es ist ein relativ schwaches Argument, im Angesicht des tiefen Abgrunds zwischen sinnstrebenden Menschen vs. sinnleerer Welt. Einerseits schenkt uns der Absurditätsbegriff die Freiheit: erst die Sinnlosigkeit der Welt ermöglicht überhaupt Freiheit. Eine sinnvolle Welt wäre unfrei, weil sie schon im voraus von Sinn durchzogen wäre. Andererseits raubt uns deswegen der Absurditätsbegriff unseren Sinn. Sinnlose Freiheit? Freie Sinnlosigkeit? Heikel! Absurdität belebt sicherlich den Humor im Alltag, man nimmt Dinge nicht mehr so ernst und ist gelassener. Gleichzeitig treibt sie aber jeden sinnstrebenden Menschen unweigerlich in den Zynismus. Das verbittert ihn. Der Abgrund bleibt. Und mit ihm die Tragik des Daseins.

Wenn aber die Welt nun doch mit Sinn durchzogen ist? Und wir davon ausgehen, dass es Freiheit gar nicht gibt? Damit wäre die Absurdität aufgehoben und man würde jeglichem Zynismus den Boden unter seinen zynischen Füßen wegziehen. Dass Freiheit durchaus unwahrscheinlich ist, kann man ruhigen Gewissens behaupten. Sag ich jetzt mal so als Gelegenheitsdeterminist. Das belegt die Physik schon länger für die äußere Welt und die Neurowissenschaften demnächst auch für die innere Welt des Menschen (wetten!?). Ich weiß. Das ist jetzt alles etwas arg spekulativ und unwissenschaftlich, aber führt zu meiner Lieblingseinstellung, auf die wir ja hinaus wollen. Man verzeihe mir also die ungehobelte Rhetorik zur Einführung. Kurz: es gibt keinen Abgrund. Die Welt ist voller Sinn.

Wie sieht ein solcher Sinn aus? Es ist eine sehr abstrakte Form von Sinn. Ist aber hohe Abstraktion nicht unpraktikabel für den Alltag? Ob das nun so ist, wird sich noch zeigen. In erster Linie ermöglicht eine hohe Abstraktion eine hohe Güte, das heißt ein ausdauerndes sich-bewähren-können. Aber lassen wir doch Lao-Tse zu Wort kommen:

V

Das Unermeßliche kennt nicht Einzel-Liebe /

Es durchdringt Alles und bringt sich dar.

Der Erwachte kennt nicht Einzel-Liebe /

Er durchdringt Alles und bringt sich dar.

Gleicht nicht das Unermeßliche einem Blasebalg?

Seine Leere ermöglicht seine Fülle.

Schnell erschöpft sind die Wogen der Liebe und des Hasses.

Nie erschöpft sich die innere Meeresruhe.


XI

Dreissig Speichen treffen die Nabe /

Die Leere dazwischen macht das Rad.

Lehm formt der Töpfer zu Gefäßen /

Die Leere darinnen macht das Gefäß.

Fenster und Türen bricht man in Mauern /

Die Leere damitten macht die Behausung.

Das Sichtbare bildet die Form eines Werkes.

Das Nicht-Sichtbare macht seinen Wert aus.

Auszug aus dem Tao Te King. Übersetzung: Walter Jerven. O.W. Barth Verlag 2010

Etwas scheint alle Dinge miteinander zu vernetzen, verbinden, verweben, verkleben – vereinen. Es ist die Leere. Die taoistische Leere ist keinesfalls ein absurder Abgrund, der aufteilt, sondern eine lebendige Kraft, die vereint. Sie ist nicht überirdisch oder ein Gott. Sie vereint Berg und Tal, Himmel und Erde, Kunde und Verkäufer. Wenn der Weise Tee trinkt, trinkt gleichzeitig der Tee den Weisen. Die Leere ist voll und ganz gegenwärtig und weltlich. Dieses Konzept der Leere erinnert an Konzepte der modernen Physik, die davon ausgehen, dass Materie in Wirklichkeit Wellen sind. Mindfuck! Die Welt, ja der ganze Kosmos, ist immateriell. Alles ist Geist. Das gefällt dem Geisteswissenschaftler. Auch westliche Philosophen wie Leibniz, Schelling und Heidegger haben schon daran gezweifelt, dass wir in einer dinglichen Welt leben. In Leibniz‘ Worten: „Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts?“

Aber was bringt mir das für den Alltag? Stelle Dir vor, dein Chef schreit dich an. Laut dem Leere-Argument schreist damit auch du deinen Chef zeitgleich an. Ohne dass er es weiß! Ha! Wer ist jetzt der Chef!? Dass Leere-Argument hebt das (westliche) Konzept von Subjekt und Objekt auf. Dein Chef ist dein Kollege ist die Putzfrau ist der Tisch ist deine Mutter ist du. Damit löst sich auch die Vorstellung eines Selbst auf und somit die Angriffsfläche für Kränkungen. Kein Selbst, keine Kränkung. Gleichzeitig eröffnet sich eine Welt tiefer Empathie, wenn alle eins sind. Verständnis und Mitgefühl sind heilsame Tugenden, die wir leider vor lauter Individualismus verlernt haben.

Das Konzept der Leere ist auch die Grundlage der Achtsamkeitsübungen. Wenn im Büro nichts los ist, einfach mal ganz bewusst den Kaffee trinken. Du bist der Kaffee! Oder wenn dein Kollege den Papierkorb nicht geleert hat – das ist Deine Gelegenheit! Leere den Papierkorb und Du leerst dich. Du bist der Papierkorb! Nächstes mal den Ausschnitt der hübschen Kundin ganz bewusst wahrnehmen und den Ausblick genießen. Du bist der Ausschnitt!

So jetzt mal im Ernst. Bis jetzt hat sich in meinem Leben und Arbeitsalltag die Idee der taoistischen Leere weitaus besser bewährt als die Idee der Absurdität. Die Leere macht auch schwierige Situationen erträglicher und sinnvoller. Weil sie verbindet und nicht zerteilt. Vielleicht braucht ein gelingendes Leben gar keine Erfüllung, sondern Entleerung.

Zwar geht die Freiheit, die die Absurdität bietet, verloren. Auch mag für manche die „Unfreiheit der Leere“ einengend klingen. Aber für mich ist die Erkenntnis, im Kosmos eingebunden zu sein, von großer beruhigender Tiefe. Sie bedeutet Geborgenheit.

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